Wie autobiografisch die Filme von Julia von Heinz sind, sieht man ihnen auf den ersten Blick nicht unbedingt an. Wer aber erst einmal die motivischen Querverbindungen verfolgt, wie sie in dieser Werkschau erstmals zur Rekonstruktion einladen, erfährt viel Persönliches über eine der erfolgreichsten deutschen Autorenfilmerinnen. Und mehr als das: Ein facettenreiches Deutschlandporträt entfaltet sich da, ausgreifend ins Geschichtliche, dabei vibrierend vor Gegenwart und ohne das Sinnliche und Unterhaltsame dem Didaktischen zu unterwerfen.

Leben und Werk

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Das Kino von Julia von Heinz schult den Blick für die eigene Zeitgenossenschaft. Ihre Figuren ringen darum, Teil von etwas zu sein, bleiben oft aber bewusst auf Abstand, sind Außenseiter. Ihre innere Unruhe sucht Tätigkeit, findet Beruhigung und Zuhause in stabil-fragiler Komplizen- und Gefährtenschaft. Zwischen Zweifeln und Selbstgewissheit brechen sie auf und suchen nach ihrer Herkunft, um ihre Gegenwart besser zu verstehen – und um vor der Zukunft nicht zu verzagen.

Cosima Lutz

1976 in West-Berlin geboren und aufgewachsen in Bonn, übte sich Julia von Heinz schon als junger Mensch im reflektierten Distanzhalten zu dem, was andere für ihren Markenkern halten wollten. Mit einem Jagdgewehr zum Beispiel, sagt der Adelsspross, habe sie nie hantiert – anders als die ebenfalls adelige Luisa im Antifa-Drama „Und morgen die ganze Welt“ (2020). Schon ihre Eltern, beide Juristen, hielten zu hochwohlgeborenen Kreisen Abstand. Das Autobiografische liegt in dem unter anderem mit dem Bayerischen Filmpreis für die beste Regie ausgezeichneten Film woanders: Wie Luisa schloss sich von Heinz als Teenager der Antifa an. Anlass war ein rechtsradikaler Überfall auf sie und ihre Freunde.

Filme müssten wie Flugblätter sein, agitatorisch – so dachte sie deshalb noch als Studentin. Das Jurastudium schmiss sie nach zwei Semestern hin, lernte in Köln das Handwerk der Mediengestalterin und setzte in Berlin ein Diplom als Kamerafrau obendrauf. Mit entwaffnender Ehrlichkeit schildert sie in Gesprächen, dass erst diese Ausbildungen ihr die Augen für Film als Kunstform geöffnet hätten – als etwas, das mehr ist als ein dienendes Medium für politische Botschaften.

Aftermath-Trilogie: Und morgen die ganze Welt, Treasure, Hannas Reise und Eldorado KaDeWe
Und morgen die ganze Welt - Still 1
TREASURE - Still 4

Mit dem Wechsel nach Berlin und den Herausforderungen als Studentin und Mutter kam von Heinz’ Engagement in der Antifa zum Erliegen; sie behielt ihr Herzensthema Antifaschismus aber beharrlich im Blick. 18 Jahre, sagt sie, habe es gebraucht, bis „Und morgen die ganze Welt“ schließlich „auf der Welt“ gewesen sei – von der ersten Absage eines öffentlich-rechtlichen Senders bis zur Premiere in Venedig 2020. Die Verwirklichung von „Treasure“, ihrer ersten internationalen Produktion, zog sich bis zur Premiere bei der Berlinale 2024 über zehn Jahre hin. Dazwischen erschien unter anderem „Hannas Reise“ (2013). Von Heinz nennt diese drei Filme ihre „Aftermath-Trilogie“, weil darin die Auswirkungen des Holocaust auf die Nachgeborenen verhandelt werden.

Hannas Reise - Still 2
ELDORADO KaDeWe - Still 5

Im Grunde gehört auch „Eldorado KaDeWe“ zu diesem Themenkomplex. Von der Kritik als Miniserie gefeiert, die neue Maßstäbe gesetzt habe, stellt von Heinz in ihrer Erzählung vom legendären Berliner Kaufhaus weibliche Arbeitsbiografien, eine lesbische Liebe sowie die gewaltsame „Arisierung“ jüdischen Vermögens in den Mittelpunkt. Wirtschafts- und Sozialgeschichte als lebenspralle Parabel auf gegenwärtige Entwicklungen: Das gelingt mit anti-nostalgischen Kunstgriffen wie etwa dem Beibehalten eines modernen Straßenbildes in den Außenaufnahmen. Der Berliner Fernsehturm ist schon da, wenn die Nazischergen im Nachtclub „Eldorado“ eine Razzia veranstalten. Es ist wieder da – oder es war nie weg –, sagen diese spukhaft realistischen Bilder.

Zerpflückt und gerettet von Rosa von Praunheim: Meine Väter, Rosakinder, Was am Ende zählt und Standesgemäß
MEINE VÄTER - Still 2
Rosakinder - Still 8

Einer von Julia von Heinz’ Großvätern war jüdischer Herkunft und stellte einen Antrag auf „Arisierung“; der andere verwaltete das Vermögen seines jüdischen Compagnons penibel und überwies es ihm nach dem Krieg zurück. Das Thema Homosexualität wiederum kann als Echo einer Entdeckung gelesen werden, die Julia von Heinz nach dem Tod ihres Vaters machte: Dieser stets Unnahbare verbarg seine Liebe zu Männern zeitlebens – auch vor der eigenen Familie. Beide Motive, die jüdische Herkunft und die unterdrückte Queerness, verbindet die übergreifende Frage: Wie kann ein Mensch loyal bleiben, auch gegenüber sich selbst, im Bann einer oft unsichtbaren, aber lange nachwirkenden Gewalt?

WAS AM ENDE ZÄHLT - Still 3
STANDESGEMÄSS - Still 2

Diesen Fragen geht von Heinz im Kurzfilm „Meine Väter“ und im Gemeinschaftswerk „Rosakinder“ nach. Eine harte Schule muss das gewesen sein, zerpflückt zu werden von ihrem Lehrer Rosa von Praunheim, der sie für „verwöhnt“ hielt. Doch er „rettete“ sie auch. Als nach ihrem Debüt „Was am Ende zählt“ der Erfolg zunächst auf sich warten ließ und eine schwere Depression sich Bahn brach, ermunterte er sie, ihre Schubladen-Ideen einem BR-Redakteur zu zeigen. Heraus kam die so skurrile wie bewegende Dokumentation „Standesgemäß“ (2009) über drei sehr unterschiedliche adelige Frauen auf der Suche nach der passenden Partie. Der Bann war gebrochen, ihre Karriere gewann Schwung.

Bücher, die zu mir kamen: Hanni und Nanni und Ich bin dann mal weg
Ich bin dann mal weg - Still 3
Ich bin dann mal weg - Still 1

Als „Distanzierung“ wurde der Regisseurin, die ihre Drehbücher oft mit ihrem Mann John Quester schreibt, einmal ausgelegt, dass sie ihre Fernseharbeiten („Katharina Luther“, den Tatort „Für immer und dich“) sowie die Kinoerfolge „Hanni und Nanni 2“ (2011) und „Ich bin dann mal weg“ (2015) als „Auftragsarbeiten“ bezeichnete. Im Gespräch jedoch nennt sie sie „Bücher, die zu mir kamen“ – sie sind ihr wertvoll, weil sie der achtmal von Filmhochschulen abgelehnten „Autodidaktin“ (von Heinz über von Heinz) halfen, endgültig als Regieprofi wahrgenommen zu werden.

Masterclass

Ein seltener, fast intimer Blick auf das, was Filme wirklich ausmacht: die Masterclass mit Julia von Heinz am 24.10. um 15:00 in der Bürgergesellschaft.

Lucie & Vera

Filmdetails
Lucie & Vera - Poster 1

Vera lernt das Straßenmädchen Lucie kennen und schließt sich ihrem Leben an. Vera wird schwanger, möchte das Baby aber nicht. Sie lässt sich überreden, es unter Lucies Namen auszutragen, um zusammen eine Familie zu gründen. Eine Konstellation, der die Mädchen nicht gewachsen sind...

Über den Film

Regie: Julia von Heinz
Land/Jahr: Deutschland 2003
Sprache: dt. OF ohne UT
Dauer: 26min

Was am Ende zählt

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WAS AM ENDE ZÄHLT - Poster 1

Carla reißt von zu Hause aus, um in Lyon Mode zu studieren, verliert jedoch am Bahnhof alles und strandet mittellos. Auf einer Baustelle, wo sie Arbeit findet, begegnet sie Lucie, die dort mit ihrem Bruder lebt und ihr Zuhause gefunden hat. Zwischen den beiden Frauen entsteht eine enge Verbindung, die ihre Lebenspläne infrage stellt. Als Carla schwanger wird, bietet Lucie an, das Kind als ihres auszugeben – doch Carla kann ihr Baby schließlich nicht hergeben.

Über den Film

Regie: Julia von Heinz
Land/Jahr: Deutschland 2008
Sprache: dt. OF m. engl. UT
Dauer: 100min

Standesgemäss

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STANDESGEMÄSS - Poster 1

Der Film begleitet drei adelige Frauen, die zwischen Tradition, gesellschaftlichen Erwartungen und ihrem eigenen Lebensweg stehen. Gräfin Alexandra von Bredow kämpft sich nach Krisen und Armut zurück ins Leben und findet spät die Liebe. Baronesse Alexandra von Beaulieu Marconnay ringt mit der übermächtigen Familiengeschichte, während Verena von Zerboni di Sposetti nach dem Ausstieg aus der Anwaltskarriere ihre Identität neu sucht. Ein einfühlsames Porträt dreier Außenseiterinnen im Mikrokosmos des deutschen Adels.

Über den Film

Regie: Julia von Heinz
Land/Jahr: Deutschland 2008
Sprache: dt. OF m. engl. UT
Dauer: 87min

Rosakinder

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Rosakinder - Poster 2

Fünf sehr unterschiedliche Regisseure verbindet eine prägende Figur: Rosa von Praunheim. Zu seinem 70. Geburtstag drehen sie als „Rosakinder“ eine filmische Hommage, in der sie ihre eigenen Wege und ihre Beziehung zu ihm zeigen. Entstanden ist eine farbenreiche Collage aus Dokumentation und persönlichem Bekenntnis, in der Praunheim als Lehrer und Vaterfigur erscheint – geliebt, gefürchtet und nie ganz loszulassen.

Über den Film

Regie: Chris Kraus, Axel Ranisch, Robert Thalheim, Tom Tykwer, Julia von Heinz
Land/Jahr: Deutschland 2012
Sprache: dt. OF ohne UT
Dauer: 95min

Hannas Reise

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Hannas Reise - Poster 2

Hanna braucht für ihre Karriere einen Nachweis über soziales Engagement und landet widerwillig in einem Behindertendorf in Tel Aviv. Mit ihrer arroganten Art eckt sie überall an, besonders bei der Holocaust-Überlebenden Gertraud und ihrem Betreuer Itay. Zwischen ihr und Itay entwickelt sich jedoch eine zarte Beziehung, die Hannas Blick auf die Welt verändert. Am Ende erkennen beide, dass ihre Herkunft sie trennt – aber ihre Verbindung wichtiger ist.

Über den Film

Regie: Julia von Heinz
Land/Jahr: 2013
Sprache: dt., engl. OF m. dt. UT
Dauer: 99min

Ich bin dann mal weg

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Ich bin dann mal weg - Poster 2

Nach gesundheitlichen Zusammenbrüchen erkennt Entertainer Hape, dass er sein Leben ändern muss. Er nimmt sich eine Auszeit und wandert den Jakobsweg nach Santiago de Compostela – auf der Suche nach Sinn, Gott oder vielleicht sich selbst. Mit Humor und Gefühl erzählt Ich bin dann mal weg von einer spirituellen Reise, die zugleich leicht und tief berührend ist.

Über den Film

Regie: Julia von Heinz
Land/Jahr: Deutschland 2015
Sprache: dt. OF ohne UT
Dauer: 132min

Und Morgen die ganze Welt

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UND MORGEN DIE GANZE WELT - Poster 1

Die 20-jährige Jurastudentin Luisa will etwas gegen den Rechtsruck in Deutschland tun und schließt sich einer linken Gruppe an. Dort lernt sie Alfa und Lenor kennen, die auch Gewalt als Mittel des Widerstands akzeptieren. Immer tiefer wird Luisa in den Strudel aus Idealismus und Radikalisierung gezogen, bis sie entscheiden muss, wie weit sie wirklich gehen will – mit allen Konsequenzen.

Über den Film

Regie: Julia von Heinz
Land/Jahr: Deutschland 2020
Sprache: dt. OF ohne UT
Dauer: 110min

Meine Väter

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Meine Väter - Poster 1

Nach dem plötzlichen Tod ihres 80-jährigen Vaters entdeckt Regisseurin Julia von Heinz, dass er heimlich homosexuell war. Überrascht und berührt sucht sie das Gespräch mit Rosa von Praunheim, einer Ikone der Schwulenbewegung. So entsteht ein sensibles Porträt eines eigenwilligen, einsamen Mannes und einer Tochter, die ihm nachträglich näherkommt.

Über den Film

Regie: Julia von Heinz
Land/Jahr: Deutschland 2021
Sprache: dt. OF ohne UT
Dauer: 22min

Eldorado KaDeWe

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ELDORADO KaDeWe - Poster 1

Berlin in den 1920er-Jahren ist geprägt von politischem Chaos und glitzernder Freiheit – und mittendrin das KaDeWe, Symbol für Luxus und Aufbruch. Dort begegnen sich Hedi, Verkäuferin, und Fritzi, Tochter des Besitzers, und verlieben sich trotz aller gesellschaftlichen Grenzen. Parallel ringt Fritzis Bruder Harry um Anerkennung und kämpft mit inneren Dämonen, während Prokurist Georg zum Schlüsselfigur des Kaufhauses wird. Am Ende entscheidet sich nicht nur das Schicksal des KaDeWe, sondern auch das der vier untrennbar verbundenen Freunde.

Über den Film

Regie: Julia von Heinz
Land/Jahr: Deutschland 2022
Sprache: dt. OF ohne UT
Dauer: 135min

Treasure

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TREASURE - Poster 1

Kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs reist die New Yorker Journalistin Ruth mit ihrem Vater Edek nach Polen, um die Geschichte ihrer jüdischen Familie zu erforschen. Während Ruth Antworten sucht, will der lebenslustige Holocaustüberlebende die Vergangenheit lieber vergessen und bringt sie mit seinem Verhalten oft zur Verzweiflung. Doch auf ihrer gemeinsamen Reise kommen verdrängte Erinnerungen ans Licht – und aus Distanz wird neue Nähe zwischen Vater und Tochter.

Über den Film

Regie: Julia von Heinz
Land/Jahr: Deutschland, Frankreich 2024
Sprache: engl., pl. OF m. dt. UT
Dauer: 111min